Frei für Veränderungen, gefangen im Dazwischen oder total ortlos? Der Passagier im Transit ist alles zugleich. Eine Analyse moderner Transiterzählungen.
Hotelzimmer, Bahnhöfe, Flughafenterminals: Orte wie diese sind längst Teil unseres Alltags. Es sind Transit-Orte – Orte, an denen wir uns aufhalten, ohne zu bleiben. Marc Augé nennt sie »Nicht-Orte«, Peter Sloterdijk »Niemandsorte«. Nichts und niemand also, worüber es zu schreiben lohnte? Das Gegenteil beweisen zahlreiche Autorinnen und Autoren der literarischen Moderne, die Transit-Orte zum Gegenstand und zum Moment der Strukturierung ihrer Texte machen.
Im Zeitalter von Globalisierung und Mobilität bieten diese Orte, verschmolzen zu hyperkulturellen Transit-Räumen, das, was konventionelle Orte längst nicht mehr bieten können – einen Halt, eine Zuflucht.
Die Eisenbahn ist der zentrale Transit-Ort der beginnenden europäischen Moderne. Die »rasende Maschine« ist nicht nur der Motor der Industrialisierung, mit dem Ausbau des Schienennetzes explodieren auch Zahl und Dauer der Aufenthalte im Transit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zugleich ist die Geschichte der Eisenbahn die Geschichte einer räumlichen Irritation, die von den Autoren der Zeit aufgeregt verfolgt und literarisch verarbeitet wird.
Am 9. November 1918 beginnt eine Epoche deutscher Geschichte, die nicht nur aus heutiger Sicht als ›Durchgangsepoche‹ zwischen zwei Weltkriegen gilt, sondern schon von ihren Zeitgenossen als provisorisch – und damit immer auch als transitorisch – empfunden wurde: Die Weimarer Republik. In dieser allgemeinen Durchgangszeit hat vor allem der Mikrokosmos Hotel das Potenzial, zum literarischen Transit-Ort der Zeit zu werden.
Im geschlossenen Denksystem der Nationalsozialisten hat das offene, kosmopolitische Konzept des Transit-Orts keinen Platz. Wenn es überhaupt noch einen Transit-Ort gibt, der sinnbildlich für die Zeit der 1930er und 1940er Jahre stehen kann, so muss man ihn an den Rändern des diktatorischen Systems, an den Rändern Europas suchen: Der Hafen wird zum Hoffnungsort und die Schiffspassage über den Ozean zum letzten Ausweg vieler Exilanten.
Der Flughafen ist DER symbolische Ort der globalisierten Spätmoderne. Literatur, Film und Werbung imaginieren den Flughafen als Prototyp des hypermodernen, atopischen Transit-Orts. Gleichzeitig ist er durch seine Gleichförmigkeit und Sterilität ein Ort, der sich tendenziell der Narration verweigert. Mit dem Problem, am Ort ohne Geschichte eine Geschichte erzählen zu wollen, setzen sich mehrere Autoren der Gegenwart auseinander.
Abbildung, Montage, Verfremdung? Literarische Orte und Alltagsorte befinden sich in einem spannenden Wechselverhältnis. Die Konstruktion literarischer Transit-Orte und -Räume wird auch mit Hilfe von Kartenmaterial untersucht.
Stadtplan von Marseille mit einer Projektion des Aktionsradius des Erzählers und literarischer Orte aus »Transit«
Stadtplan von Lissabon mit einer Projektion des Alfama-Viertels und literarischer Orte aus »Die Nacht von Lissabon«
Über die Auswahl unten erhalten Sie einen Einblick in vier Buchkapitel.
Eine ausführliche Leseprobe mit dem Inhaltsverzeichnis und der Einleitung gibt’s hier (PDF).
Am 5. Mai 1843 berichtet ein Augenzeuge über einen der ersten Transit-Orte der Moderne. Gefeiert wird die Eröffnung der französischen Eisenbahnlinien in Paris. Der Augenzeuge ist Heinrich Heine:
»Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orleans, die andere nach Rouen fährt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem socialen Isolirschemel steht. […] Während […] die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. […] Die Eisenbahnen sind […] ein providenzielles Ereigniß, das der Menschheit einen neuen Umschwung giebt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsre Generazion darf sich rühmen, daß sie dabey gewesen.«
In Heines Bericht wird deutlich, dass die Beschleunigung vom gemächlichen Reisetempo der Postkutsche hin zu den »großen Bewegungsmächte[n]« der Eisenbahn keine bloß graduelle Veränderung ist. Die Eisenbahn ist nicht nur Mittel, um den beschleunigten Ereignissen der Moderne beizuwohnen, sondern wird selbst zum beschleunigenden Ereignis, das Menschen in ganz Europa fasziniert.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählt die Eisenbahn weiterhin zu den meistgenutzten Verkehrsmitteln, ist im kollektiven Bewusstsein jedoch längst etabliert. Dies hat auch Auswirkungen auf die Transitliteratur: »Als integraler Bestandteil des hochindustrialisierten Alltags ist die Eisenbahn der neuen Dichtergeneration […] schon zu selbstverständlich, als daß von ihr als Motiv oder Thema fundamental neue Anregungen ausgehen können«, so Peter Sprengel über die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts.
Weitere technische Innovationen kommen hinzu, die die Wahrnehmung von Raum und Zeit erneut verändern und die Mobilität der Menschen erhöhen, doch: »Ob elektrischer Telegraf oder Telefon, ob Auto oder Flugzeug: Alles erregt nicht mehr so viel Aufsehen, nimmt nicht mehr in dieser Weise den Atem. Es hat nicht mehr jene symbolische und imaginative Kraft, die den Eisenbahnauftritt zu einem derart ›totalen‹, alle Sinne fesselnden Eindruck und Topos werden ließ«.
Der singuläre Schock durch die Eisenbahn ist längst einer allgemeinen Reizüberflutung gewichen, die vor allem den Großstädter betrifft. Georg Simmel hat jene allgemeine »Steigerung des Nervenlebens« in seinem berühmten Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« bereits 1903 geschildert und damit die Grundlagen der Stadtsoziologie geschaffen.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 treten das Hotel und die Eisenbahn immer seltener als offene Gesellschaftsorte in Erscheinung. Cordula Seger findet in ihrer Grand-Hotel-Studie die deutliche Formel: »1933, kein Ort mehr«. Der Transit-Ort Hotel, wenige Jahre zuvor noch der gesellschaftliche Treffpunkt schlechthin, wird von den Nationalsozialisten radikal umgedeutet. Das Jahr 1933 gelte, so Seger weiter,
»als Chiffre eines Einbruchs, der politisch eine erschreckende Umwertung der zivilisatorischen Werte in Deutschland mit sich brachte. Es ist ein Zeitpunkt, dessen Auswirkungen auch das Grand Hotel grundlegend in Mitleidenschaft zogen. Denn wie kaum ein anderer Ort verkörpert das Grand Hotel das Kosmopolitische und steht einer Eingrenzung auf das Nationale diametral entgegen: Insofern, als das Grand Hotel als internationale Gesellschaftsinsel figuriert, ist es immer schon exterritorial.«
Mit dem Exterritorialen und Ortlosen sind Merkmale angesprochen, die über das Grand Hotel hinaus reichen und den Transit-Ort im Allgemeinen betreffen. Angesichts der Bedeutung, die dem Begriff des nationalen Territoriums – auch bezeichnet als Lebensraum oder Boden – in der nationalsozialistischen Ideologie zukommt, und angesichts des militärischen Aufwands, mit dem spätestens nach 1939 unablässig versucht wird, das ›Dritte Reich‹ territorial zu vergrößern, ist es nur folgerichtig, dass die Nationalsozialisten den Orten der Vermischung und Delokalisierung, also den Transit-Orten, durchweg ablehnend gegenüberstehen.
Die Terminals, die check-in-Schalter, die security checks, die duty-free shops, die langen Gänge, die Wartehallen, die Passagierbrücken, die Lichter der Start- und Landebahnen – diese und viele weitere Orte bilden den Flughafen, den Transit-Ort der Spätmoderne. Dieser Ort ist ein fragiles Gebilde, hochkomplex und gleichförmig, voller Geschichten und völlig steril, aufregend und nervtötend zugleich. »Würde man gebeten«, hält der Schriftsteller Alain de Botton fest, »einen Marsianer an nur einen einzigen Ort zu bringen, an dem sich exemplarisch die Vielfalt der unsere Zivilisation prägenden Themen ausmachen ließe – von unserem Glauben an den technischen Fortschritt bis zur Zerstörung der Natur, von globaler Vernetzung bis zur Romantisierung des Reisens –, dann müsste man ihm wohl die Ankunfts- und Abflughallen eines Flughafens zeigen.« Während Alain de Botton dies notiert, sitzt er an einem Schreibtisch mitten im Terminal 5 des Flughafens Heathrow.
Um all das zu begreifen, um diesen Transit-Ort zu erfassen, der eigentlich ein Konglomerat aus einer Vielzahl von Orten ist, muss man zurückblicken ins Jahr 1909.
Max Maria von Weber: Eine Winternacht auf der Lokomotive (1865)
Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888)
Joseph Roth: Hotel Savoy (1924)
Franz Werfel: Die Hoteltreppe (1927)
Anna Seghers: Transit (1944)
Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon (1962)
Angelika Overath: Flughafenfische (2009)
Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen (2011)
lehrte Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raumtheorie und Narratologie.